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gestanden, dass ansichten, meinungen, grundsätze, ideen und dergleichen in der geschichte eine bedeutende rolle spielen.

Die bedingungen, unter denen dieses geschieht, aufzuweisen, ist eines der schwierigsten, aber edelsten und interessantesten geschäfte aller der wissenschaften, welche sich mit der geistigen entwickelung der menschheit bemühen. Wie die geologie, so dürfte vielleicht auch die geistesgeschichte von säcularen veränderungen reden, denn die wirklich die welt umgestaltenden ideen haben immer jahrhunderte gebraucht, um sich auszuleben. Daher ist es äusserst schwierig, die anfänge solcher epochemachenden gedanken zu erkennen. Die sie zuerst aussprachen, konnten ihnen oft eben deshalb keinen andern als einen dunklen und unklaren ausdruck geben, weil sie selbst noch im dunklen über das tappten, was ihre seele bewegte. Missverständnis, vorurteil, herrschsucht, beschränktheit hinderten die menschen, sich über neu auftauchende wahrheiten klar zu werden; streitigkeiten über das neue dienten nicht immer dazu, das richtige und lebensfähige zur geltung und verbreitung zu bringen. Um so wichtiger ist es, diejenigen gedanken und persönlichkeiten zu erkennen, welche in sich deutlich und anschaulich die entwickelungszeitalter der menschheit darstellen. Ohne kenntnis der persönlichkeiten bleibt unser wissen von dem geistigen zustande der vorzeit hohl und ohne anschaulichkeit; ohne versenkung in die ein zeitalter durchdringenden und treibenden ideen bleiben inhalt und zusammenhang der entwickelung undeutlich.

Am 30. mai 1744 starb in England der mann, welcher damals für den grössten dichter seines volkes galt, unbestritten und weit über die grenzen seines vaterlandes hinaus.

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nach dem rechtstitel dieses weltruhmes fragt, dem wird zunächst
eine negative thatsache wenn der ausdruck erlaubt ist
in die augen fallen, dass A. Pope nämlich keine dramen ver-
öffentlicht hat, dass wir ihm kein einziges bedeutendes lyrisches
gedicht verdanken, dass weder ein roman noch ein ernstes
heldengedicht unter seinen werken sich findet. Seine berühm-
testen werke tragen die bescheidenen titel Der lockenraub,
Ein versuch über die literarische kritik, Ein versuch über
den menschen. In allen dichtungen Pope's spielt die reflexion
eine grosse rolle, in allen ausser dem Lockenraub und einigen
nachbildungen älterer erzählungen, sowie etlichen jugend-

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gedichten idyllisch-bescheibender art die hauptrolle. Das ist jedenfalls ein sehr eigentümlicher dichterruhm, oder mit andern worten und genauer gesagt: es ist überhaupt kein dichterruhm im engeren sinne. Die poetischen anlagen und die kunst Pope's sind ohne zweifel überaus hervorragend und bewunderungswürdig, aber seine gesammtbedeutung als schriftsteller besteht darin, dass er der ausgeprägteste, vielseitigste und formvollendetste vertreter der ersten epoche, des frühlings der geistigen bewegung ist, welche dem 18. jahrhundert seine signatur gegeben hat, der aufklärung. Nicht grossartige und neue poetische stoffe noch genial geschaffene kunstformen in der darstellung machen ihn zum grossen dichter, sondern die vollständigkeit, die anschaulichkeit und die feinheit der wiedergabe seines zeitgeistes in gebundener rede; Pope's weltanschauung, das wort im weitesten sinne genommen, ist es, was alles interesse an diesem schriftstellerischen charakter ausmacht.

Die rasche und äusserst weite verbreitung vou Pope's schriften, besonders die seines Essay on man, der hauptquelle, aber durchaus nicht der einzigen noch der für sich allein ausreichenden zur kenntniss seiner denkart, hat gezeigt, wie sehr seine gedanken sowohl an sich selbst als insbesondere auch der form ihrer darstellung wegen seinem jahrhundert zusagten. Das grosse interesse, das seine zeit an Pope's werken nahm, hat sich auch auf seine person gerichtet. Es waren nicht immer die lautersten absichten und die richtigen gesichtspunkte, von denen man hierbei ausging. Parteilichkeit, neid und hass und auch einfache klatschsucht an sich haben dem vom glück in seiner schriftstellerlaufbahn ausserordentlich begünstigten und in seinem persönlichen charakter manche angriffspunkte bietenden manne, der sich so leicht feinde machte, wie er selbst in hass gegen jemand entbrannte, übelwollende und auf jede kleinigkeit lauernde aufpasser verschafft; andererseits hat er freunde und unentwegte vertheidiger gefunden, unter denen Warburton als muster eines literarischen anwalts vielleicht einzig in der geschichte dasteht. Wenn das studium Pope's demnach auch auf viele die schattenseiten der menschlichen natur recht deutlich zeigende züge stösst, so kommt das doch der richtigen erkenntnis seiner denkart sehr zu gute. Es ergiebt sich aber eben daraus für den betrachter die oft etwas

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mühselige pflicht, fortwährend auf die beziehungen zwischen der persönlichkeit und den meinungen des schriftstellers aufmerksam zu sein; denn sehr bald findet sich die einsicht, dass gerade in diesem besondern falle die gegenseitige abhängigkeit des persönlichen und sachlichen ausserordentlich gross ist. Soweit die gründe dieser erscheinung allgemeiner art sind, also auch allgemein bezeichnet werden können, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ansichten über ethische eigenschaften und verhältnisse, über die ideen von gott, freiheit des menschlichen willens u. s. w. an sich viel mehr von der subjectivität abhängen als solche über historische und naturwissenschaftliche probleme oder thatsachen; und zweitens liegt es in dem wesen der aufklärung, das subjectiv freie, persönliche ermessen des denkenden menschen sehr hoch zu stellen. > Der mensch hat das recht, zu denken und zu fühlen, was er will, ist einer der lieblingssätze der aufklärer. Im folgenden wird im einzelnen weit anschaulicher gezeigt werdes können, wie sehr Pope's weltanschauung und die besondere art, wie er sie vertrat und geltend machte, mit seiner angebornen individualität und mit seinen persönlichen umständen und schicksalen verknüpft sind.

Körperlich schwächlich und nervös, durch einen hohen rücken, eine traurige erbschaft von seinem vater, verunstaltet, als katholik ohne aussicht auf befriedigung seines ehrgeizes in irgend einer öffentlichen laufbahn, in dem meisten zweigen des wissens autodidakt, feinfühlig, phantasiereich und zugleich von einem zur schlauheit hinneigenden scharfen verstande, war er bei seiner hohen begabung für gebundene rede auf den beruf des dichters und schriftstellers angewiesen. Die guten materiellen erfolge seiner thätigkeit ermöglichten ihm die tadelloseste respectabilität; der wert, den er darauf legt, zeigt ihn als echten Engländer. Der schönste zug in seinem charakter ist die reinheit seines verhältnisses zum weiblichen geschlecht. Voll empfänglichkeit für weibliche reize und ein tiefer kenner des weiblichen herzens, ist er unverheiratet geblieben; über alle geschlechtlichen verhältnisse führt er wie Lessing die gerade sprache des mannes von reinem gewissen; seine vollständige freiheit von prüderie mutet uns heutzutage wenig englisch an. Wenn wir ihm eigentliche männliche tugenden absprechen müssen, wenn uns sein hang zur intrigue und zur unaufrichtigkeit abstösst, wenn uns verdriesst, dass er nicht

stolz genug war, verächtliche gegner mit blosser verachtung zu strafen, so begreifen wir doch auch, dass er viele freunde unter den bedeutendsten männern und frauen seiner zeit gefunden hat, wozu nicht allein die feine liebenswürdigkeit, die ihm im verkehr zu gebote stand, der grund war.

Die besten quellen für die erkenntnis des charakters unsers dichters überhaupt sind seine satirischen schriften, die ihrer natur nach am meisten geeignet sind, den menschen im schriftsteller erkennen zu lassen. Pope's charakter als schriftsteller wie als mensch erinnert uns, wenn wir aus den be zeichneten quellen schöpfen, sehr an den Heinrich Heine's trotz der grossen verschiedenheit ihrer poetischen schöpfungen. Beide waren bis zur leidenschaftlichkeit empfindlich, unversöhnlich, wenn sie beleidigt waren, beide mit den besten waffen des geistes, witz, poetischer und stilistischer begabung, versehen, um sich ihren feinden furchtbar zu machen. Der unterschied, der sich in den satirischen dichtungen beider findet, gründet sich darauf, dass Pope sein ganzes leben in guter und vor nehmer gesellschaft zubrachte, Heine fast ausschliesslich in schlechter. Edler ist Pope's personalsatire nie als Heine's, aber feiner, vornehmer, meist anständiger. Er würde nie so mit jemand verfahren sein wie Heine mit Platen oder Börne, aber was er vielen seiner zeitgenossen, z. b. der herzogin von Marlborough, angethan, ist eher kränkender als Heine's pöbelhafte giftgeschosse.

Will man die gedanken eines genialen mannes, der Pope bei allen seinen schwächen und mängeln war, genau und in ihrem natürlichen zusammenhange erkennen, so muss man ihn sehr zart anfassen. Die kategorien der schule und etwa der allgemeinen bildung reichen hier nicht aus. Lessing fühlte mit kühnem scharfsinn heraus, dass Pope nichts weniger als ein philosoph war, denn eine der bezeichnendsten eigentümlichkeiten seiner weltansicht ist, dass sie kein system ist. Die darstellung ist eine poetische, weil Pope ein poetisch begabter mann war, aber Lessing thut nicht Pope, sondern den dichtern unrecht, denn die schwache und ungenaue fügung der gedanken ist nicht eine eigenschaft des dichters als solchen Lessing selbst ist der klarste beweis dagegen, sondern des menschen. Wiederum wäre es ungerecht, zu behaupten, dass die vielen widersprüche, inconsequenzen und absichtlich in dunkel gehüllten

punkte in Pope's meinungen lediglich einer unklarheit des denkens oder seinem persönlichen charakter zur last fielen. Der wahre grund ist die übereinstimmung seines geistes und charakters mit dem seiner zeit, die eben eine übergangszeit war. Es galt überall, neues zur geltung zu bringen, altes anzugreifen oder es vergessen zu machen, wenn man sich scheute, es geradezu anzugreifen. Denn dieses unternehmen ist gefährlich, wenn man dabei mit denen, die macht über leib und leben haben, in conflict gerät. Das England des achtzehnten jahrhunderts war zwar in diesem punkte weniger unsanft als frühere zeiten, in denen noch grössere geistige umwälzungen vor sich gegangen sind. Giftbecher, kreuze und scheiterhaufen gab es nicht mehr, aber einkerkerung, pranger, abschneiden der ohren; und schliesslich gab es die öffentliche meinung der grossen massen, deren ungunst sich ein beliebter schriftsteller nicht gern aussetzt. Es galt also vorsicht, bisweilen auch ein wenig zweizüngigkeit. Das sonderbarste aber und das, was sich am leichtesten der beobachtung entzieht, ist dies: Die neuen ansichten wurden in jener zeit von den vorsichtigeren immer viel wirksamer vertreten als von den brauseköpfen, starrsinnigen oder unüberlegten; die alten auctoritäten waren stets viel mehr gefährdet von denen, die ihren ruf als gutgesinnte zu erhalten wussten, ihn aber dazu benutzten, ungestraft gelegentlich die freidenker zu spielen. Die radicalen anhänger der aufklärung hemmten ihren siegreichen fortschritt, die aufrichtigen und geraden nützten ihm nichts; die männer, denen es auf einen widerruf im falle des bedarfs nicht ankam, und die genau wussten, wieviel sie von der wahrheit zu sagen, wieviel zurückzuhalten hatten, förderten ihn. Dafür machten die ersten mit jenen unsanften mitteln der autorität gegen ihre gegner bekanntschaft und wurden wohl gelegentlich als helden angesehen, die zweiten erregten wenig aufsehen, die dritten waren, wenn sie talent und ehrgeiz besassen, in England, von dem hier zunächst nur die rede ist, die löwen des tages.

Ein solcher war Pope, und er war dank seinen glänzenden geistesgaben der grösste virtuos unter ihnen. Daher war seine thätigkeit sowohl für ihn die quelle überreicher befriedigung seines brennenden ehrgeizes als auch von einzig dastehendem einflusse auf seine zeitgenossen, immer zugleich durch das, was er sagte, und durch die art, wie er es sagte.

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