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Verschiedene große Schriftsteller, die sich zu einer gewissen Zeit ihres Lebens in diesem Zustande befanden, haben denselben in ihren Schriften geschildert. Unter diesen hat wohl keiner sich darüber so treffend und stark ausgedrückt, als der Meister in der Kunst, psychologische Phänomene zu beschreiben. Ich hoffe, meine Leser werden die hieher gehörigen Stellen aus seinen Werken hier nicht ungerne lesen. Ich werde aber, um den Zusammenhang nicht zu zerreißen, und das Gemälde nicht verstümmelt zu geben, Verschiedenes anführen müssen, was nicht gerade zur Entstehung und Natur . diefes Zustands gehört.

Der savonische Vikar, dessen Glaubensbe kenntniß ich nicht genug lesen kann, und in dessen Denkart Rousseau seine eigene schildert, drückt sich unter andern so aus"): „Ich lernte in meiner Jugend was man wollte, daß ich lernen sollte, ich fagte, was man wollte, daß ich sagen sollte, ich machte mich verbindlich, so wie man es begehrte— ich wurde Priester. Aber bald empfand ich, daß indem ich mich verpflichtet hatte, nicht Mensch zu seyn, ich mehr versprochen hatte, als ich halten fonnte. Man sagt uns, das Gewissen sey das Werk der Vorurtheile; aber ich weiß aus eigener Erfahrnng, daß es der Ordnung der Natur hartnäckig allen Gesehen der Menschen zuwider folgt. Man kann uns wohl dieß oder jenes verbieten, die Ges wissensbisse werfen uns immer vor, was die wohl georda

17) Emile L. IV. S. 16. ff. Zweibr. Ausg.

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geordnete Natur erlaubt, und aus einem noch stårkern Grunde, was sie uns gebietet. Von meiner Jugend an habe ich den Ehestand als die erste und heiligste Anstalt der Natur verehrt. Da ich mir das Recht genommen hatte, mich derselben zu unterwerfen, so entschloß ich mich, sie nicht zu entheiligen. Dieser Entschluß wurde mein Unglück. Meine Achtung für das Bett anderer stellte meine Vergehungen der Welt bloß. Das Aergerniß mußte ausgeföhnt werden. Ich wurde eingeschlossen, excommunicirt, vertrieben - mehr das Opfer meiner Gewissenhaftigkeit, als meiner Unkeuschheit. Ich begriff aus den Vorwürfen, die mir mein Fall zuzog, daß man oft seinen Fehler nur vergrößern darf, um der Strafe zu entgehen. Wenige Erfahrungen führen einen nachdenkenden Geist weit. Da ich sah, daß meine Idee von dem, was recht ist, und von allen Pflichten des Menschen durch traurige Beobachtungen umgestürzt wurde, so verlor ich jeden Tag eine der Meinungen, welche ich angenommen hatte. Da diejenige, welche mir übrig geblieben waren, nicht mehr hinreichten, um ein Ganzes zu bilden, das sich durch sich selbst halten könnte, so fühlte ich, daß sich nach und nach in meiner Seele die Evidenz der Principien verdunkelte. Ich kam endlich dahin, daß ich nicht mehr wußte, was ich denken sollte Ich war in der Stimmung der Ungewisheit und des Zweifels, welche Descartes zur Erforschung der Wahr

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Wahrheit fordert.

Dieser Zustand ist nicht dazu

gemacht, lange zu dauern, er ist beunruhigend und peinlich; nur das Interesse des lasters oder die Trågheit der Seele kann uns darinn beharren lassen. Mein Herz war nicht so verdorben, daß ich mir lange darinn håtte gefallen können und nichts erhält die Gewohnheit nachzudenken besser, als wenn man mehr mit sich selbst, als mit seinem Glücke zufrieden ist.

Ich dachte also über das traurige Loos der Sterblichen nach, welche auf diesem Meere menschlicher Meinungen, ohne Ruder und Compas, ihren stürmischen Leidenschaften überlassen, ohne irgend einen andern Führer, als einen unerfahrnen Steuermann, der seinen Weg nicht kennt, und nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht, hin und her fahren. Ich sagte zu mir selbst: Ich liebe die Wahrheit, ich fuche sie und kann sie nirgends erkennen; man zeige mir sie, ich will ihr getreu bleiben: warum muß sie fich der Sehnsucht eines Herzens entziehen, das gemacht ist, sie anzubeten?

Ob ich gleich oft die größte Uebel érduldet habe, so habe ich doch niemals ein so ununterbrochen unangenehmes Leben geführt, als in diesen Zeiten der Unruhe und Bangigkeit, wo ich unaufhörlich von Zweifel zu Zweifel irrend, von meinem langen Nachfinnen immer nichts als Ungewisheit, Dunkelheiten, Widersprüche über die Ursache meines Daseyns und über die Regel meiner Pflichten davontrug.

Wie kann man Skeptiker aus System und mit guten Gewissen seyn? Ich kann es nicht begreifen. Solche Philosophen gibt es entweder nicht oder sie find die unglücklichste der Menschen. Der Zweifel über Sachen, deren Kenntniß wichtig für uns ist, ist ein für den menschlichen Geist zu gewaltsamer Zustand; lange kann er nicht widerstehen, er entschei det sich wider seinen Willen auf die eine oder andere Weise, und er will sich lieber betrügen, als nichts glauben.

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Was meine Verlegenheit vermehrte, war, daß ich, geboren in einer Kirche, welche Alles entscheidet und keinen Zweifel erlaubt, sobald ich einen Punct verwarf auch. Alles Uebrige zu verwerfen pflegte und daß die Unmöglichkeit, so viele ungereimte Entscheidungen zuzugeben, mich auch von denjenigen los machte, welche es nicht waren. Indem man mir sagte: Glaube Alles! so hinderte man mich, irgend etwas zu glauben, und ich wußte gar nicht mehr, wo ich stille stehen sollte.

Ich frug die Philosophen um Rath, ich durchs blåtterte ihre Schriften, ich untersuchte ihre verschiedene Meinungen; ich fand sie alle stolz, entscheidend, dogmatisch selbst in ihrem vorgeblichen Skepticismus, alles wissend, nichts beweisend, einer spottend über den andern, und dieser lezte Punct, in dem sie alle übereinstimmen, schien mir der einzige zu seyn, in dem sie Recht haben. Sie sind siegreich beym Angriffe und kraftlos, wenn sie sich vertheidigen sollen. Wenn man ihre Gründe wågt, so haben sie nur welche, um

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zu zerstören; wenn man die Stimmen zählt, so behålt jeder nur die seinige; sie vereinigen sich nur, um zu streiten; sie anzuhören, war nicht das Mittel, aus meiner Ungewisheit zu treten.

Ich begriff, daß die unzureichende Kraft des menschlichen Geistes die erste Ursache dieser erstaunenden Verschiedenheit von Meinungen ist und der Hochmuth die zweite. Wir haben den Maasstab zu dieser unermeßlichen Maschine nicht, wir können ihre Verhältnisse nicht berechnen; wir wissen ihre ersten Geseze und ihre Endursachen nicht; wir sind uns selbst unbekannt; wir kennen weder unsre Natur, noch das thatige Princip in uns; kaum wissen wir, ob der Mensch ein einfaches oder zusammengeseztes Wesen ist; undurchdringliche Geheimnisse umgeben uns von allen Seiten; sie sind über die Region des Sinnlichen erhaben; wir glauben sie durch unsern Verstand durchdringen zu können und wir haben dazu nichts als Einbildungskraft. Jeder bahnt sich durch diese eingebildete Welt einen Weg, den er für den rechten hålt; feiner kann wissen, ob der feinige zum Zwek führt. Und doch wollen wir Alles durchdringen, Alles wissen. Das Einige, was wir nicht verstehen, ist, das nicht zu wissen, was wir nicht wissen können. Wir wollen uns lieber auf Ohngefähr hin entscheiden und glauben, was nicht ist, als gestehen, daß keiner von uns sehen kann, was wirklich ist. Ein kleiner Theil eines großen Ganzen, dessen Grenzen wir nicht kennen und das sein Urheber unsern thörichten Zånkereien überliefert, sind wir

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