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folgt, ohne sich ihnen zu unterwerfen; er hat seine Sprache bereichert, ohne ihr etwas von ihrer eigenen Selbstständigkeit zu entziehen; er hat sie völlig um. gebildet, ohne sie im geringsten zu verbilden. Wer seinem Volke einen solchen Dienst leistet, darf mit Recht rühmen, daß er ihm die Musen vom aonischen Gipfel zugeführt habe.

Ist irgend etwas, was man an dieser so gebil. deten Sprache des Römers mit Recht ausstellen könnte, so wäre es, daß sie hie und da sich ein wenig von dem Pfade der Einfalt entferne und in das Rednerische und Glänzende überschweife, eine Verir. rung, die besonders da, wo Virgil feinen Helden sprechen läßt, sichtbar wird und unstreitig in der fleißigen Lesung der griechischen Tragiker und der, in jenen Tagen allgemein geliebten und bewunderten, alexandrinischen Dichter ihren Grund hat. indeß der Römer diesen Vorwurf nicht völlig zurück. weisen kann, so darf er dagegen mit Recht geltend machen, daß die Begeisterung, die anhaltend durch fein ganzes Gedicht weht, auch auf die rhetorischen Stellen übergegangen sey und ihnen so den Anstrich des Kalten und Gesuchten, wodurch sie allein auffallen und beleidigen, genommen habe.

Wenn

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T. Lucretius Carus.

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(Er wurde, nach Eusebius, Ol. 171, 2., oder im J. R. 659., vor Chr. 95., folglich etwa zwölf Jahre søåter, als Cicero, zu Rom geboren. Weder sein Geschlecht und übrige Lebensumstände, noch auch das Jahr und die Art seines Todes sind mit Sicherheit bekannt, sondern werden muthmaßlich bald so bald anders angege= ben. Eine Stelle in seinem Gedichte (1. 30 - 43.) scheint anzudeuten, daß es, während der Zerrüttungen, welche der Staat durch Catilina und Clodius erfuhr, ausgearbeitet worden sey a).

Wenn von Lucrezens Gedicht über die Natur der Dinge nichts weiter auf uns gekommen wåre, alg die begeisterungsvolle Anrede an die Göttinn der Lie. be, mit der es anhebt, und einige andere von den Kunstrichtern långst schon ausgezeichnete Stellen, so würden wir sicher einen ganz andern Dichter, als wir in ihm besigen, verloren zu haben glauben. „Um

a) Man sehe Eichstädt in den Prolegg. zu seiner Ausgabe des Dichters, wo die gewöhnlichen Sagen und Mährchen, die von ihm umlaufen, p. 54-64. geprüft wer den.

was für einen Schaß, würden wir aufrufen, hat uns das Ünrecht der Zeit gebracht? welch einen Genuß, nach solchen Ueberbleibseln zu urtheilen, ung entrissen? Es ist wahr, Lucrezens Sprache ist so gebildet nicht, wie die eines Virgil; seine Perioden sind weniger voll und geründet, und sein Vers ̧nicht mit allem dem Wohlklange, dessen er fähig ist, ausge`stattet. Allein durch wie viele andre Vorzüge ents schädigt er nicht? Das beseelende Feuer der Einbil. bildungskraft scheint bey ihm nie zu erlöschen, son dern sich allen auch den kleinsten Darstellungen mitzutheilen. Seine Sprache sinkt nirgends herab, son. dern erhält sich stets in einer mittlern Sphäre und schwingt sich nicht selten über diese hinaus. Seine Bersinnlichungsgabe kündigt sich überall als ganz so groß und so rege an, um selbst den leblösen Theilen eines Lehrgedichts Bewegung und Anmuth einzuhau chen und den spröden Stoff zu besiegen. Auch das Bedürfniß, den einförmigen Vortrag von Zeit zu Zeit zu unterbrechen und durch Episoden zu erheitern, hat er gewiß gekannt, gefühlt und befriedigt." So, fam ge ich, würden wir ungefähr urtheilen, falls nicht das ganze lucrezische Gedicht, sondern einzelne schöne Bruchstücke auf uns gekommen wåren, und uns nicht wenig wundern, wenn wir beym Quintilian b)

b) Jul Inftit. orat. X. 1. p. 905. Ed. Burmanni,

låsen, daß Lucrez ein schwerfälliger Dichter c) sey, und vom Cicero d) erführen, daß viel Kunst und selo ten ein Strahl des Genie's sich in ihm offenbare.

Ganz anders verhält es sich nun, da die Hand der Zeit die Arbeit des Römers verschont hat, und diese, wenn auch nicht durchaus in der Gestalt, in welcher sie aus der Feder ihres Urhebers kam e), doch, überhaupt genommen, vollständig und unver,

c) Difficilis, fagt der Kritiker, wozu Wakefield (Eichstådt in Prolegg. p. 99.) ganz richtig bemerkt: Manifeftiffimum eft cuiuis contentius intuenti, magnum rhetorem non de laudibus Lucretii, vt elegantis poetae, detrahere voluiffe, fed fignificare, orationem eius fubtiliorem effe atque rexxx@régny, vt argumentum quoque nimis aufterum et exile, quam quae vbertati, magnificentiae, et amoenitati, fermonis oratorii confummandis pulcre fint accommodata.

d) In Ep. ad Q. Fratrem II. 11. Lucretii poemata, antwortet er ihm, vt fcribis, ita funt: non multis luminibus ingenii, multae tamen artis; vergl. über Lesart und Sinn der Stelle Eichstädt in Prolegg. p. 86. und über die Bedeutung des Ausdrucks ars Hottinger in feiner Vergleichung der deutschen Dichter mit den Griechen und Römern. S. 249.

e). In Beziehung auf die neulich von H. Eichstädt (Prolegg. p. 79.) vorgetragene und mit guten Gründen unterstüßte Behauptung, daß es zwey Recensionen von Lucrezens Gedichte gebe, eine unvollendete von ihm selbst, und eine nicht durchgängig aber theilweise verbefferte von einer fremden Hand. Haec posterior recenfio, schreibt er, ad noftram aetatem propagata eft, ita tamen, prioris vt non omnia obliterata videantur veftigia.

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fehrt vor uns liegt. Auch die kecksten und lautesten Lobeserhebungen der Gifane und Lambine ƒ) find, nicht vermögend gewesen, die Kunstrichter zu beste. chen, oder sie zu bewegen, das Ganze über dem Ein zelnen zu vergessen und dem erstern von dem leßtern mehr, als sich ziemt, zu gut kommen zu laffen. Viels mehr haben sich die Prüfungen der Kritik unaufhör. lich und, man darf wohl sagen; keineswegs zum Vortheil des Dichters erneuert.. Nicht zufrieden, die. Aussprüche eines Quintilian und Cicero zu unterschreiben, hat man beyder Urtheile geschärft und ver. stärkt, und den Römer eben so tief, wo nicht noch tiefer heruntergefeßt, als er von seinen Verehrern er hoben worden ist. Man hat ihn nicht bloß schwer. fällig, man hat ihn trocken und mager, und, statt der Kraft eines sich zuweilen regenden Genius, nichts, als die Geschicklichkeit eines Versmachers, in ihm ge. funden. Treten wir unbefangen zwischen die ftreitenden Parteyen und erwarten die Entscheidung von der nähern Betrachtung des Kunstwerkes.

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f) Omnium poetarum Latinorum, sagt der leßtere in der Vorrede zur dritten Ausgabe des Dichters, qui hodie exftant et qui ad noftram aetatem peruenerunt, elegantiffimus et puriffimus, idemque grauiffimus atque ornatiffimus Lucretius eft. Fast noch übertriebener spricht er von Lucrezens Vorzügen in der Zueignungsschrift an Karl den neunten und in der Abhandlung de Lucretii patria, genere, vitae ftudio, ingenio u. s. m.

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